Was meine Eltern nie erzählten

Ein Besuch im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau

„Wenn du nicht hörst, dann kommst du ins Heim“ ein Satz, den wohl jedes Kind der DDR kennt, ein
Satz an einer Wand der Ausstellung in der Gedenkstätte, ein Satz der zu seiner Zeit in den Mauern
des geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau Menschen zu Monstern und Jugendliche zu
Bruchstücken ihrer Selbst werden ließ.
Wer die Zeit der DDR, ihre Werte und Ideologie kennt, weiß um die sozialistische Idee und die Liebe
zum Kollektiv. Was zählt schon die einzelne Person, wenn es um die eine ganz große Sache geht?
Unterordnung in das Regime der SED, mit seinem Anführer Erich Honecker und seiner „besseren
Hälfte“ Margot, die alles nur aus Liebe zum Volk und zum Kommunismus taten. Gestürzte Diktatoren
die nach dem Mauerfall ihr Leben in Chile, mit einer Rente verleben durften, von der heute viele
träumen. Straftäter und Mörder, nicht nur an der innerdeutschen Grenze, in den Verließen und
Kellern der Staatssicherheit (Stasi), sondern auch in Einrichtung der damaligen Jugendhilfe, mit
Schirmherrin Margot Honecker.

Pädagogik ist die wissenschaftliche Disziplin zur Erziehung und Bildung. Sie ist ein zweischneidiges
Schwert im Umgang mit dem uns anvertrauten Klientel, sie ist die Fragestellung zur Definition von
„subjektiver Macht“. Nichts anderes ist es, was wir Pädagogen haben, wenn wir unsere tägliche
Arbeit verrichten. Von Mai 1964 bis November 1989 war es der repressive Weg, den Erzieher*Innen in dem
geschlossenen Jugendwerkhof Torgau nahmen, um junge Menschen ins Kollektiv zu zwingen. Wenn
alle vorgeschalteten autoritären Mittel der Institutionen versagten, gab es nur noch die Endstation.

Angekommen, meist nach stundenlanger fahrt, hinter einem Schleusentor und 4 Meter hohen
Mauern, in einem Gebäude der Jugendhilfe, dass heute noch in den Augen der Menschen in Torgau
ein Jugendknast war. Gitter vor den Fenstern, Stacheldraht an Klettermöglichkeiten und keinen
Kontakt zur Außenwelt, ein Bild was mir nach dem Holocaust und 1945 unmöglich scheint.
Angekommen hieß für die Betroffenen auch stundenlanges Warten auf der Treppe, physische
Gewalt, wenn man sich erdreistete Fragen zu stellen. Angekommen hieß seine bisschen Habe und
seine Würde zu verlieren. Nachdem man seine Scham lassen musste und nackt vor einem Erzieher
stand, waren die Haare dran.

Kahlgeschoren ging es in die Arrestzelle, um die Hausordnung auswendig zu lernen. Ausgestattet mit
2 Decken, einem Holzstuhl, einer Holzpritsche und einem Eimer für die Notdurft war es der Ort, an
dem die Heranwachsenden zwischen 4-21 Tage „gefügig“ gemacht werden sollten. Gefügig für
Zwangsarbeit, militärischem Drill, Folter, Bestrafung und Demütigung auf allen seelischen Ebenen.
Was für viele Eltern heute wie ein Alptraum klingt, war bis zum 11. November 1989 eiskalte Realität
für die Opfer dieses Systems. Im Entenmarsch ging es über Stunden die Treppen rauf und wieder
runter, mit Gummiknüppeln bewaffnet bestraften vermeintliche Pädagogen die Gruppen. Wer
„Schuld“ hatte, wurde nicht nur vom Personal mit seinem Kollektiv bestraft, sondern durfte sich auch
der Gruppe stellen, die ihre erlebte Pein in roher Gewalt an den oder die  „Schuldige*n“ zurückgab.

Morgenappel, Frühsport, Zwangsarbeit, Sport, geleitete „Freizeit“, der zermürbende Tagesablauf, bevor es am
Abend mit 12 anderen aufs Zimmer ging. Eingeschlossen mit nur einem Eimer der für die nächtliche
Notdurft gedacht war. Generell durfte der Toilettengang nur zu fünft unter Aufsicht stattfinden. Ohne
Trennwände oder Türen wurde man bei seinem „Geschäft“ beobachtet. Der Sport war Drill, auch für
die Mädchen und wer selbst jetzt noch ein Teil seiner Selbst besaß, kam in die Dunkelzelle oder den
„Fuchsbau“, einem Verschlag unter der Treppe, in dem man weder stehen, sitzen, noch richtig liegen
konnte. Dunkelheit und tiefste Finsternis ist es was die Räume ausmacht, Dunkelheit und tiefste
Finsternis ist was ich fühle, wenn ich an meinen Besuch in der Gedenkstätte denke, Dunkelheit und
tiefste Finsternis ist, was ich den Seelen der „Pädagogen“ zuspreche.

Wenn ich an die Augen der Betroffenen denke, die durchdringenden Augen der Zeitzeugin die im
Dialog mit uns Besuchern zur Eröffnung ihrer Ausstellung stand, die ihre Erlebnisse in den Bildern
zum Ausdruck brachte, die Kunst als eine Methodik zur Verarbeitung wählte, frage ich mich, in welche
Augen die Peiniger gesehen haben. Wie kann ein Mensch die Verantwortung für Schmerz, seelische
Zerstörung und sexualisierte Gewalt tragen? Wie kann er jede Nacht ruhig schlafen? Wie kann er bis
heute ungestraft in diesem Berufsfeld arbeiten? Selbst ein Suizid wurde verharmlost und tat dem
Alltag nur insoweit Schaden, dass die Gruppe ihre Strafe dafür empfing.

Heute ist auch klar, dass sich der dort wohnende alleinstehende Einrichtungsleiter Mädchen und
Jungen auf die Stube bringen ließ, um sich an ihnen sexuell zu vergehen. Ein gesellschaftlicher
Aufarbeitungsprozess der noch am Anfang steht, da es nur wenige gibt die ihr Schweigen brechen
können. Ein Thema was in einer modernen Gesellschaft nicht totgeschwiegen werden darf.

Was ich mitgenommen habe, ist ein großes Stück Achtsamkeit auf meinen Beruf und mein Handeln.
Ebenso einen neuen Blickwinkel zur Selbstreflektion in Bezug auf die Macht, die meine Arbeit mit sich
bringt und Verantwortung, die Würde des Menschen als ein hohes Gut, vielleicht sogar als das
höchste, in einer demokratischen Gesellschaft anzunehmen und zu verteidigen.

J.F. (Kascady) 17.11.2018

 

Links: http://www.jugendwerkhof-torgau.de/

https://www.facebook.com/pages/Gedenkst%C3%A4tte-Geschlossener-Jugendwerkhof-Torgau/394299687259280

3 thoughts on “Was meine Eltern nie erzählten

  1. Hallo, das ist wirklich sehr gut geschrieben und ich hatte Gänsehaut.
    Habe bis eben noch nie was davon gehört oder gelesen aber es ist wichtig, darüber zu berichten. Das muss aufgearbeitet werden, so wie vieles in unserem Land…
    Ich frage mich immer, wie all diese Taten, egal in welchem Bereich unserer Geschichte, von Menschen durchgeführt werden konnten. Was geht in diesen Köpfen vor, wo ist das Herz, wo ist die Empathie?

  2. Unfassbar!! Welche Menschenverachtung!! Unvorstellbar, und ich habe in der Arztpraxis von einigen ostdeutschen Patienten gehört, wie es in der ehemaligen DDR gewesen sein muss.. Mein Mann und ich waren in Berlin auch im Stasi-Museum, man kann fast nicht glauben, mit welcher Perfidie die Stasi agiert hat. Die bei den Verhören auf dem Stuhl liegenden Tücher, auf denen die „Befragten“ mit den Handinnenflaechen zwischen Tuch und Oberschenkel sitzen mussten, wurden in Schraubverschlussglaesern aufbewahrt.. Soo unglaublich viele „Beweisstuecke“ , die von diesen kranken Hirnen gesammelt wurden… Diese ganze Ansammlung von weiteren Ungeheuerlichkeiten die wir gesehen haben… Fassungslos und schweigend haben wir diesen Ort verlassen.. Erschütternd, wozu sog. Menschen fähig sind…

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